Die Main Weser Bahn
Wer heute mit dem Zug in 2,5 Std. von Frankfurt über
Giesen nach Kassel fährt kann sich kaum vorstellen unter welchen
Schwierigkeiten die Strecke gebaut wurde und wie lange ein Zug in den ersten
Jahren für die Fahrt benötigte.
Visionäre
und Bremser
Das Kurfürstentum
von Hessen-Kassel und seine Regenten sahen Hessen als einen reinen
Agrarstaat. Das neue Verkehrsmittel "Eisenbahn" hatte in diesem
Überlegungen keinen Platz.
Der Beginn des Eisenbahnbau im Kurfürstentum Hessen-Kassel geht daher vor
allem auf die Initiative des kurfürstlichen Oberberginspektor Schäffer,
des kurfürstlichen Geheimen Oberbaurat Fick sowie des Oberbergrat Carl
Anton Henschel (Gründer der Lokschmiede Henschel & Söhne in Kassel)
zurück. Die Entwicklungen in England waren beeindruckend und das neue
Transportmittel stand erst am Anfang seiner technischen Möglichkeiten.
Schäffer erkannte dies und arbeitet bereits 1832 an dem Plan einer
kontinentalen Eisenbahnverbindungen mit durchgehenden Strecken, die sich
von der Atlantikküste in Frankreich, der Norseeküste in Belgien und
Hamburg schließlich in Kassel treffen sollten. Von Kassel sollte die Linie
weiter bis zur Donau führen um in Verbindung mit den Donaudampfschiffen
das schwarze Meer zu erreichen. Eine kontinentale Eisenbahnlinie war für
die damalige Zeit eine vollkommen utopische Vorstellung. In Nordamerika
wurde sie jedoch bereits wenige Jahrzehnte später verwirklicht. Schäffer gründete für seine Idee im Jahre 1833 in Kassel die "Gesellschaft für
Eisenbahnen". Im gleichen Jahr besuchte Carl Anton Henschel im Auftrag der
Gesellschaft England, um sich vor Ort über die Auswirkungen der Eisenbahn
in den Städten Liverpool und Manchester zu informieren. Trotz
Zusammenschluss der Gesellschaft mit ähnlichen Vereinigungen in Hamburg,
Bremen und Lübeck gab es aber keine Lösung für den Plan einer großen
Städteverbindung. Neben der Finanzierung standen nicht weniger als 34
deutschen Kleinstaaten mit eigenen Wirtschaftsinteressen einer
Verwirklichung im Wege.
Eine Verbindung zwischen Kassel und Frankfurt
Mit dem Beitritt des Kurfürstentum Hessen-Kassel zum deutschen Zollverein
im Jahre 1834 erweiterte sich der Markt für die Kasseler Kaufleute. Für
den schnelleren Transport der Waren rückte die Eisenbahn damit immer mehr
in das wirtschaftliche Interesse. In einem Beschluss des Kurfürsten von Hessen-Kassel
vom Oktober 1838 wurde erstmals eine Eisenbahnverbindung von Kassel über
Marburg nach Frankfurt erwähnt. Damit gab man einer westlichen Verbindung
gegenüber einer Linie über Bad Hersfeld der Vorzug. Der Verein stellte
etwa zur gleichen Zeit seine Aktivitäten ein. Das Kurfürstentum
Hessen-Kassel und das Großherzogtum Hessen-Darmstadt versuchten die
gemeinsamen Interessen an einer Nord-Süd Verbindung über Marburg, Giesen
zu koordinieren. Das Hessen-Darmstadt erstreckte sich damals
zwischen Giessen, Alsfeld und Lauterbach sowie bis vor die Tore von
Frankfurt und war damit ein wichtige Partner. Mit der Stadt Frankfurt kam es jedoch zu keiner Einigung da
dort eine Verbindung nach Leipzig als wichtiger erschien.
Staatsvertrag 1845
Im Rahmen der Voruntersuchungen überprüfte 1841 auch George Stephenson
die Topografie in Kurhessen. Es sollten noch viele Berechnungen und
Verhandlungen vergehen bis am 5. April 1845 endlich ein Staatsvertrag
zwischen dem Kurfürstentum Hessen-Kassel, dem Großherzogtum
Hessen-Darmstadt sowie der freien Stadt Frankfurt zum Bau einer westlichen
Eisenbahnlinie von Kassel über Marburg, Giessen und Friedberg nach
Frankfurt geschlossen wurde. Die westliche Strecke hatte im Gegensatz zu
einer Variante über Bad Hersfeld, einen deutlich Kostenvorteil. Die
Überschreitung der Wasserscheide zwischen Rhein und Weser war ohne teuren
Tunnel bei Neustadt und Stadtallendorf möglich. Vorgesehen wurde eine eingleisige Strecke von 199 km in der
Normalspur. Durch die entsprechende Auslegung von Bahndämmen und Brücken
konnte die Strecke aber um ein zweites Gleis erweitert werden.
Der Bedeutung des neuen
Verkehrsmittels waren sich z.B. die beiden Nachbarstädte Treysa und Ziegenhain
durchaus bewusst und so kam es zu einigen Differenzen wegen der Lage des
Bahnhofs.
Letztendlich einigte man sich
aber auf eine Standort, der etwa 2 km vom damaligen Ortskern der Stadt
Treysa entfernt war - für Ziegenhain aber noch eine vertretbare
Alternative war.
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Bahnarbeiter bei Wabern, Slg. Uchtmann
Beinahe wäre Marburg
von der neuen Linie ausgeschlossen worden, weil man die Kosten für die
Regulierung der Lahn und der Ohm sparen wollte. Statt dessen sollte die
Strecke das Lahntal durch den Ebsdorfer Grund erreichen. Zum Glück
entschied man sich nach der Abwägung der Vor- und Nachteile aber für die
Anbindung von Marburg. |
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Die Mainzer Brücke in Treysa vermutlich kurz nach dem
Bau. |
Baubeginn 1846
Im August 1846 wurde unter der Regie des belgischen Ingenieurs
Frans Splingard mit den ersten Erdarbeiten in Kurhessen begonnen. Von
Frankfurt aus leitete Remigius Eyssen die Arbeiten.
Das benötigte Baumaterial kam aus heimischen Steinbrüchen, Ziegeleien
und Sägewerken. Bis zu 5.000 Arbeiter bauten gleichzeitig an den
Bahndämmen. Für die Brücken und Tunnel waren über 1.400 Bauhandwerker
im Einsatz. Der Steinbruch an der Landsburg im heutigen
Schwalm-Eder-Kreis lieferte große Mengen des benötigten
Basaltschotters. In Allendorf a.d. Landsburg waren für die Verarbeitung
allein 400 Arbeiter untergebracht. Dem gegenüber stand etwa die
gleiche Anzahl Einheimischer. Die Arbeitsbedingungen für die
Bahnarbeiter waren auch für die damalige Zeit schwer. Riesige
Erdmassen mussten von Hand bewegt werden. Wurde ein Arbeiter verletzt oder erkrankte, so brauchte man ihn
in in das Hospital einer nahe liegenden Stadt. Auch an Sonntagen
musste für einen Tageslohn von 8 Silbergroschen (Handlanger)
gearbeitet werden. Strenge Bestimmungen und Strafen auch bei kleineren
Vergehen, regelten das Leben auf den Baustellen sowie in den
Unterkünften. Es kam zu mehreren Unruhen und Streiks die an den
Bedingungen jedoch nichts ändern konnten.
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Die Teilstrecken
Die Eröffnung des ersten Abschnitts der so genannten Südbahn für die Strecke
von Kassel nach Gensungen konnte am 3. September 1849
gefeiert werden. Ab dem 19. Dez. 1849 wurde die Strecke bis Wabern
befahren und ab dem 12. Januar 1850 bis nach Treysa.
Im gleichen Jahr erhielt auch Kirchhain seinen Bahnanschluss. Der
Kasseler Hauptbahnhof entstand im romanisch-klassizistischen Stil
jedoch erst
zwischen 1851 und 1956 nach Plänen des kurhessischen Oberbaumeisters
Gottlob Engelhard. Viele der übrigen Bahnhofsgebäude entstanden nach
den Plänen des Architekten und 1. Direktor der
Eisenbahnverwaltung Julius Eugen Ruhl.
Der Bahnhof Neustadt vermittelt noch einen Eindruck
von der Anfangszeit der Main-Weser-Bahn. Das Bild rechts ist aus dem
Jahr
2007. |
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Tumult in
Wabern Oktober 1849
Vor der Eröffnung des Teilstücks zwischen Kassel und Treysa war für
den 25. Oktober 1849 eine Probefahrt angesetzt. Bei der Ankunft des
Zuges im Bahnhof Wabern hatte sich bereits eine große Menschenmenge
versammelt, die eine Fahrt nach Treysa erhaschen wollte. Der Zug bestand
jedoch nur aus einem Packwagen, einem Personenwagen und 5 Güterwagen. Als
Fahrgäste waren im Zug u.a. auch der Generaldirektor Julius Eugen Ruhl. Kurzerhand stürmten einige junge
Leute die mit Kies
beladenen offenen Waggons und ließen sich selbst durch die Polizei
nicht vertreiben. Auch der Generaldirektor versuchte vergeblich die
"Waggonbesetzer" zur Aufgabe zu überreden. Als er sich wieder in seinen
Wagen setzten wollte, wurde er an den Beinen gepackt und von seinem Sitz
gezogen. Ein betrunkener Bahnschreiber wollte unbedingt im Packwagen nach
Treysa fahren. Kurzerhand gab er selbst den Abfahrtsbefehl: "Alles
Einsteigen! Das geht auf meine Verantwortung". Der Packwagen füllte sich
umgehend mit Fahrgäste - aber nichts passierte. Der Lokführer hatte dabei
einen kühlen Kopf behalten, die Lok abgekuppelt und war nun ohne Wagen
unterwegs nach Treysa. Der Eisenbahnschreiber erhielt später für seinen Beitrag
zu der Veranstaltung eine Strafe von 10 Talern sowie einen Verweis.
Unfall in Zimmersrode November 1849
Am 2. November 1849 gab es bereits den ersten Eisenbahnunfall in Höhe
von heutigen Neuental-Zimmersrode. Eine Lokomotive stieß vermutlich beim
Ankuppeln so stark gegen einen stehenden Wagen, dass der entgleiste
und drei weitere Wagen stark beschädigt wurden. Dabei erlitten auch
mehrere Arbeiter schwere Verletzungen.

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Lokomotiven
Zusammen mit Henschel lieferte die Maschinenbau-Gesellschaft Karlsruhe
29 Loks für die Main-Weser-Bahn. Seinen Ursprung hatte das
Unternehmen von Carl Anton Henschel in einer Stuck und
Eisengießerei die er 1817 übernahm und damit den Grundstein für einer der bedeutendsten
Lokomotivfabriken in Europa legte. Sicherlich hilfreich war
dabei der Besuch von Henschel in England in Jahre 1832. Hier traf er
u.a. auch mit George Stephenson sowie den Brückeningenieur Isombad
Brunell zusammen. Die erste Lokomotive
auf der Main-Weser-Bahn kam ebenfalls von Henschel und trug den
Namen "Hassia".
Die Lokomotive "Landgraf Carl" wurde 1850 für die Main-Weser-Bahn von
der Maschinenbau-Gesellschaft Karlsruhe geliefert. Mit ihren zwei
Treibachsen, einer Vorlaufachse sowie den verhältnismäßig kleinen
Rädern ist sie ist typisch für die ersten Maschinen auf der
Main-Weser-Bahn. Trotzdem dienten solche Loks auch für den
"Schnellzugverkehr". Die Maschinen erreichte dabei eine
Höchstgeschwindigkeit von 40 - 50 km/h. |
Fertigstellung 1852
Anfang 1852 erreichte die Main-Weser-Bahn endlich auch Marburg. Im
gleichen Jahr kam es zur Verbindung des nördlichen und südlichen
Schienenstrangs zwischen Giessen und Langgöns. Am 15. Mai 1852 fuhr der
erste durchgehende Zug von Kassel nach Frankfurt. Eine Fahrt dauerte
zwischen 6,5 und 8,5 Stunden. Aus dem Jahre 1854 ist bekannt, dass in jede
Richtung bereits 4 Züge pro Tag verkehrten, die aus Personen- und
Güterwagen bestanden. Hinzu kam ein Frühzug von Marburg nach Kassel sowie
von Giessen nach Frankfurt. Nachtzüge gab es noch nicht. Der letzte Zug in
nördliche Richtung endete gegen 21:30 Uhr in Marburg. Die Trennung der
Bevölkerungsgruppen durch unterschiedliche Wagenklassen setzte sich auch
in den Wartesälen der Bahnhofe fort. Ein ehemaliger
Häftling der sich ungefugt im III. Klasse Wartesaal in Kirchhain
aufhielt wurde sogar von der Polizei entfernt.
Bei einem Tageslohn zwischen 5 und 16 Silbergroschen war die Fahrt von
Kassel nach Frankfurt
ein exklusives Vergnügen.
I. Klasse |
für Fürsten und
höchste Stände |
85 Silbergroschen |
II. Klasse |
für die höheren,
reichen Bürger |
56 Silbergroschen |
III. Klasse |
für die Gebildeten
aber weniger Bemittelten |
35 Silbergroschen |
IV. Klasse |
für solide Bürger und
Bauern |
nicht bekannt |
V. Klasse* |
für die rohe Klasse |
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*Die V. Klasse wurde zwar von
bestimmten Gruppen gefordert aber letztendlich nicht eingeführt.
Der preußische Adler schnappt zu
1866
Zum Baubeginn der Main-Weser-Bahn im
Jahre 1846 wurde für die Finanzierung eine
Staatsanleihe in Höhe von 6 Mio. Taler aufgelegt. Die Erweiterung um ein
zweites Gleis zwischen 1864 und 1865 kostete weitere 3,75 Mio Taler,
obwohl Bahndämme und Brücken bereits für ein zweites Gleis vorbereit
waren. Infolge des Krieges von 1866 und dem Frieden von Prag gingen die Anteile an der
Main-Weser-Bahn von Hessen-Kassel und Frankfurt an den Preußischen Staat
über. Im Jahr 1880 übernahm Preußen auch die verbliebenen Anteile des
Herzogtums Hessen-Darmstadt.
Die rechte Schnellzuglokomotive lieferte Henschel im Jahre 1874 mit
der Fabrik-Nr. 766 an die Main-Weser-Bahn. |

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Mit den ersten Loks war die
preußische Bahnverwaltung nicht zufrieden. Die Loks hingen nach hinten mit
dem Führerhaus und dem Kessel zu stark über. Deutlich zeigt das Bilder der
Lok
"Landgraf Carl" das Problem. Diese Bauart war in Preußen nach einem
Unfall in Gütersloh bereits seit 1851 verboten. Der größte Teil der ersten
29 Lokomotiven wurde daher schon in den 1870er Jahren ausgemustert.
Preußen orderte bereits zwischen 1866 und 1868 bei Henschel zwölf
Schnellzugloks sowie in den Folgejahren weitere Maschinen bei Hanomag und
Wöhler um den steigenden Bedarf decken zu können.
Mit der Übernahme durch Preußen war Kassel ab 1866 nunmehr als Königliche
Direktion zuständig für den Betrieb und die Verwaltung der
Main-Weser-Bahn. Mit der Neuorganisation im Jahr 1880 erhielt Kassel nur
noch den Status eines Betriebsamtes und unterstand damit der Königl.
Eisenbahndirektion Hannover. Im Jahre 1895 wurde Kassel wieder zu eine
selbstständige Direktion und blieb dies bis zum Dezember 1974.
Quellen:
Karl Zulauf: Treysa und die Eisenbahn. Schwalmstadt-Treysa 1992
Wolfgang Klee u. Dr. Günther Scheingraber: Preußen Report Band 1.2. 1992
Kurt Pötzsch: Neustadt und die Main-Weser-Bahn, Stadtarchiv Neustadt 1993
Ludwig Brake: Band 32/2000 Eisenbahngeschichte. Über Fulda oder
über Gießen -
die Entstehung der Bahnverbindung zwischen Kassel und Frankfurt im 19.
Jahrhundert.
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